Es folgen von mir im „Telegrammstil” einige „Knackpunkte” zur Virtuellen Realität (virtual reality), welche sowohl im Englischen wie im Deutschen mit VR abgekürzt wird. Beginnen wir mit der Idee hinter VR: „Virtuell” entspricht einem Als-Ob; „Reality” heißt „Wirklichkeit”, also handelt es sich bei VR um eine simulierte Wirklichkeit. Nun neigen gerade wir „ernsten” Deutschen dazu, Simuliertes abschätzig zu betrachten. Simuliert ist ja „nicht real” und kann schon deshalb nicht „gut” sein, schließlich lieben wir das „Echte”, das „Authentische”, nicht wahr?
Ein amerikanischer Denker (LEVINE) hat einen großartigen Drei-Satz geschaffen:
1.) Vor zweieinhalbtausend Jahren erfand die Menschheit die De-Duktion; man lernte aus vorhandenen Informationen (vor = prä, misse = gegeben), also aus Prämissen zu schlußfolgern und man lernte, daß solche De-Duktionen Her-Leitungen (Heraus-Führungen) waren, die den großen Vorteil hatten, wahr zu sein, sofern alle Prämissen wahr gewesen waren. Dies ermöglichte es den Denkern im alten Griechenland bereits logisch zu schließen, daß die Welt aus Atomen bestehen müsse, daß die Erde rund sein müsse, daß sie nicht im Zentrum des Universums stehen könne. Der letzte Gedanke war politisch so inkorrekt, daß man ihn ca. 2000 Jahre lang verneinen konnte, bis er dann bewiesen wurde. In Klartext: Mit der De-Duktion gelang dem Menschen nach vielen hunderttausend Jahren ein geistiger Quantensprung, der blühende Entwicklungen (wissenschaftlicher, kultureller, ja sogar wirtschaftlicher Art) nach sich zog.
2.) Vor ca. 3 Jahrhunderten erfand der Mensch die In-duktion. Er lernte analogisch (nicht logisch!) von wenigen Beispielen auf den Rest zu schließen, von einer Teilmenge auf das Ganze und dies beschleunigte das Tempo wissenschaftlicher Findungen (!) um einiges! Diese Art, nicht logisch, sondern a-logisch zu denken stellte einen weiteren Riesenschritt für die Menschheit dar, denn er erleichterte die Schöpfung der sog. „wissenschaftlichen Methode” (Beobachten, Hypothesen bilden, weiter beobachten, Hypothesen in Thesen umwandeln etc), und erlaubte somit ein gigantisches Sprießen in alle Richtungen (wissenschaftlich, kulturell und wirtschaftlich). Aber nachdem wir hunderttausende von Jahren brauchten, bis zum ersten GigaDenk-Schritt und gute 2000 für den nächsten, liegt der letzte de facto noch in unserer Gegenwart
3.) Vor einigen Jahrzehnten erfand der Mensch virtuelle reality. Zwar konnten wir auch davor mental so manches in einer geistigen „Simulation” vorwegnehmen (vom genauen Pläneschmieden bis zur Vorfreude). Aber nun gibt es zwei Arten von VR, die die Welt verändern: a. Sci.Viz (wissenschaftliche Sichtbarmachung von zuvor unvorstellbaren Dingen/ Prozessen (von den intrazellulären Vorgängen über die subatomaren bis zu den astrophysischen (wann haben Sie zuletzt gesehen, wie eine Galaxie sich langsam entrollt?), und b. (physische) VR, z.B. in Form eines Simulators, mit dem wir das Cockpit einer Boeing simulieren können oder die Fahrerkabine eines LKW. Aber, noch wichtiger, wir können Dinge simulieren, die wir uns bisher kaum vorstellen konnten, z.B. das Zusammensetzen einzelner Atome um zu testen, welche Kombinationen welche Art von Moleküle ergeben werden.
Diese Technologie wird unsere Welt mehr verändern als das Auto oder das Telefon! Das sage ich seit 1994 im selben Tonfall, aber langsam kann man es absehen. So beginnen wir langsam immer mehr von gewissen Auswirkungen dieser Entwicklung zu hören/lesen, z.B. maßgeschneiderte neue Medikamente, die bestimmte Zelltypen in bestimmter Art „kontakten” sollen. Erste Nano-Technologie-Produkte – nicht nur Nano-Roboter in unseren Arterien, sondern das frei wählbare Zusammensetzen von Molekülen um nie dagewesene Materialien mit nie dagewesenen Eigenschaften zu kreieren, z.B. spinnwebenartige Textilien, die sowohl federleicht als auch kugelsicher sind) etc., werden entwickelt. Es folgt eine (leicht upgedatete) Seminar-Unterlage (von 1995),für den ersten Überblick, falls Ihnen das alles noch neu ist:
1.) VR ist eigentlich Simulation… VR ist die „Fortsetzung” der Simulations-Technik, wenngleich auf wesentlich „realerem” Niveau und hat seine Wurzeln in Simulationen für Düsenjäger-Piloten.
2.) Der Helm … Der „komische” Helm (inzwischen bereits um einiges kleiner und leichter) wird als Head Mounted Display (HMD) bezeichnet und wurde ursprünglich für Düsenjäger-Piloten während realer Flüge (!) entwickelt, damit sie 1. nicht länger mehr als 20 einzelne Instrumente kontrollieren mußten, was bei Über-Mach-Geschwindigkeiten schon deshalb schwierig ist, weil der Pilot mit so großer Schwerkraft in den Sitz gepreßt wird, daß er teilweise fast ohnmächtig wird 2. bei Nacht- und Nebelflügen die visuellen Infos, welche RADAR und INFRAROT-Sensoren boten, in Form einer vereinfachten Darstellung (zeichentrickfilm-ähnlich) wirklich sehen konnten.
3.) Der Daten-Handschuh… Der ebenso „eigenartige” Datenhandschuh (DATA GLOVE) wurde ebenfalls für Kampfpiloten im realen Flug entwickelt. Denn die Steuerknüppel (deren verkleinerte Version später zum „Joystick” wurde) hatten damals so viele Knöpfe und Tasten, die mit einer Hand „nebenbei” und in großer Geschwindigkeit bedient werden mußten. Man nannte es „Piccoloflöte spielen”, denn der notwendige Grad an Fingerfertigkeit ist vergleichbar groß. Nur mit dem Unterschied, daß der Flötenspieler nicht mit Mach-1 oder Mach-2 in den Sitz gepreßt wird…
4.) VR hilft, einzelne Atome zu neuen Molekülen (oder Peptiden) zusammenzusetzen… Gerade auf diesem Gebiet geschehen derzeit Zeichen und Wunder. Ich rate Ihnen dringend, Howard RHEINGOLD (Buch auf deutsch: „Virtuelle Realität”) zu lesen. Er beschreibt die Arbeit der Pioniere auf diesem Gebiet, die mindestens 25 neue Industriezweige schaffen werden…
5.) Ohne Helm und Datenhandschuh geht es auch bald… Zu den Vorreitern auf allen modernen Anwendungsgebieten mit Computern gehört das Media Lab vom MIT (dessen Gründer, Nicholas NEGROPONTE das bahnbrechende Buch Total digital geschrieben hat, das ich ebenfalls empfehle!). Derzeit (das war 1995! Noch immer ist von den Ergebnissen nicht viel nach draußen gedrungen) arbeitet man am Media Lab daran, „sensible” Möbel und Wände zu entwerfen, so daß eines Tages weder Helm noch Daten-Handschuh nötig sein werden. Für die Fans von „Startrek-Enterprise – the next generation” (Die Staffel mit Captain Picard etc.) gilt: Auch das HOLODECK in Star Treks ENTERPRISE, DEEP SPACE 9 und VOYAGER war eine großartige Vision, die eines Tages Realität werden wird; virtuelle Realität nämlich!
6.) Zukünftige Anwendungen werden unter anderem sein:
I. - Professionelle Simulationen aller Art. So werden z.B. Autofahrer „erleben”, wie es ist, ein Reh oder ein Kind totzufahren. Je mehr Menschen diese Erfahrung virtuell machen, desto seltener werden sie in der sog. realen Wirklichkeit. Oder Sportler können ihre Sportart in Zeitlupe durchlaufen und langsam neue Bewegungsabläufe erlernen, so daß es letztlich schneller geht, weil sie so langsam beginnen können…. II. - Professionelle „Fernsteuerungen” per VR: Schon heute operieren Chirurgen teilweise mit Hilfe extrem starker Mikroskope, deren Bilder sie auf einem TV-Monitor verfolgen. Zum Beispiel bei Augenoperationen oder im Gehirn bzw. wenn es gilt, die feinsten Blutgefäße zu „reinigen” etc. In der Zukunft wird der Chirurg statt des flachen TV-Bildes eine drei-dimensionale VR erleben, was solche schwierigen Vorgänge um ein weiteres erleichtern wird. Diese Technik wird längerfristig u.a. folgende Konsequenzen haben: 1. Medizin-Studenten können in einem VR-Operationssaal üben 2. Wenn man die Daten bei einer echten Operation vom Mikroskop zum Tischübertragen kann, dann kann die Übertragung eines Tages via Internet auch um die Welt oder bis zum Mond gehen. Experten rechnen daher damit, daß in 10 – 20 Jahren solche Fernoperationen möglich werden, was bedeutet: Es gibt keine medizinisch schlecht versorgten Gebiete mehr, wenn zumindest das nötige technische Equipment vorhanden ist, auf welche die Bewegungen „ferngesteuert” übertragen werden können. Was jedoch heute (2002) schon der Fall ist: Ärzte können einen kompetenten Kollegen bitten, ihnen via Internet über die Schulter zu schauen und ihnen, wenn schon (noch) nicht mit Tat, so doch mit ihrem professionellem Rat zu helfen. III. - Private Simulationen: Sie werden nicht nur jede Sportart in VR ausüben können, sondern sogar Sportarten bei denen Sie gegen eine zweite Person spielen wollen (von Squash bis Fechten). Natürlich werden ersten derartige Simulations-Möglichkeiten erst in einigen Jahren auf dem Markt erscheinen und voraussichtlich noch mit Helmen und Datenhandschuhen (Media Lab rechnet mit ca. 15 Jahren Entwicklungszeit für das helm- und handschuhlose Projekt).
IV. - VR-Lernen. Dies ist eines der wichtigsten Nutzungsgebiete der VR, zu welchem Sie z.B. im Internet unter dem Stichwort Sci.Vis hochinteressante Beiträge finden. Sci.Vis steht für Science (Wissenschaft) Vision (oder: visuell), also eine völlig neue Art des Begreifens im wahrsten Wortsinn (s. auch Punkt 5). Vorläufer sind heute bereits faszinierende CD-ROMs, die es ermöglichen über Animationen schwierigste mathematische Zusammenhänge zu verstehen (zu „sehen”). Ebenso geben Trickfilme ganz neue Ein-Blicke von der Welt der Zellen oder der Moleküle (s. Punkt 6) bis zu Begriffen der Astrophysik (schwarzes Loch mit Ereignishorizont) oder abstrakten Konzepten aus allen Wissensbereichen, die früher einfach „unvorstellbar” waren… V. - Abenteuerreisen – „irreale”: Es gibt bereits eine CDROM (flache, 2-D-Bilder) mit einem originellen Ansatz: Sie erleben die Welt aus der Perspektive eines Hundes. Was zunächst wie eine Spielerei wirkt, könnte spannende Einsichten bieten: In VR wären solche Erlebnisse für viele Tierarten möglich (jede/r könnte als Jane GOODALL unter Schimpansen leben, oder unter Wölfen, oder unter Tintenfischen und Walen), was unglaubliche Lerneffekte sowie Einsichten und Einfühlungsvermögen schulen würde…Weiter wäre es denkbar, wie im SF-Roman Phantastic Voyage von Isaac Asimov eine „Reise” in den Körper zu unternehmen oder sich das Immunsystem „echt” virtuell aus der Nähe zu betrachten bzw. mit Freßzellen zu „interagieren” etc. Der Quantensprung für den menschlichen Geist gleicht dem, der nach dem Erfinden der Schrift ermöglicht wurde, nur daß es diesmal weit schneller geht… VI. - Abenteuerreisen – „reale” von bedrohten Naturschutzgebieten, in die möglichst keine Touristen mehr körperlich eintreten sollen über die Grabkammern in den Pyramiden, die durch das Ausatmen hunderttausender Touristen so stark angegriffen wurden bis hin zu VR-Reisen in die Tiefen des Meeres, in Vulkane, in den Weltraum (einmal die Erde als „lebenden Organismus sehen”) oder gleich zum Mond… Man darf die bahnbrechenden Möglichkeiten nicht unterschätzen. Nicht nur werden hier völlig neue Industriezweige entstehen, es werden sich auch manche wandeln bzw. in ihrer jetzigen Form verschwinden. Nummer 4 & 6 werden eine neue Synthese eingehen: VR-Lernen und „irreale” Abenteuerreisen ist eine totale Wissensrevolution. Haben Lehrer früher geklagt, daß sie im Wettbewerb zum Fernsehen das Interesse der Schüler/innen nicht mehr fesseln könnten – die neueren VR-Lern-Techniken machen Schule im herkömmlichen Sinn obsolet. Entweder die Schule wird sich grundlegend wandeln (soziale Kompetenzen vermitteln, Teamarbeit und Projekte, die selbstständiges Arbeiten und Forschen ermöglichen) oder sie ist „mega-out”. Wohlgemerkt, wir sprechen hier über den Zeitraum von 2010 – 2020 (wie ich 1995 bereits feststellte!) VII. - Just-in-Time Lernen: Lebenslanges Lernen impliziert die Fähigkeit, sich lebenslang auch mit neuen Themen zu befassen. Wenn die Halbwertszeit des Wissens ständig sinkt, wird „echtes Lernen” nötig, kurzfristig und auf ein Datum (z.B. für eine Präsentation) hin. Aber mit VR-Technologien wird das leichter denn je. Denn „Lernen” heißt ja körperlich „erfahren” und „begreifen”, somit kann man sich dann sehr schnell und kurzfristig auf einen bestimmten Wissensbereich einstellen, um ihn anschließend (wen der Zeitpunkt vorbei ist, für den man just-in-time gelernt hatte) weiterzuverfolgen oder ad acta zu legen… VIII. - Vorher erleben und Fehler vermeiden! Wenn man Gebäude vorher „real” begehen kann, dann stellt man Fehlplanungen vor dem Bau fest. Howard RHEINGOLD berichtet von einem neuen Anbau an der University of Carolina, bei dem man beim „virtuellen Begehen” vorab feststellte, daß eine geplante Säule enorm im Weg gewesen wäre. Er konnte es zunächst nicht glauben, als man in dem Gebäude stand und es ihm schilderte. Daraufhin ließ man ihn die original geplante Konstruktion virtuell begehen und er war platt… Von Gebäuden über Räume (OP bis Küche) über U-Boote und Raumschiffe bis zu neuen Geräten (Produkten), die man fertigen will.
IX. - VR-Sex… Natürlich wird auch so etwas möglich sein, worüber die Medien sich immer wieder lautstark aufregen. Aber bitte bedenken Sie: a. Es handelt sich um einen Bruchteil späterer Anwendungsmöglichkeiten, über den jedoch ein Großteil der VR-Debatten stattfindet. /// b. Warum hat noch niemand laut gesagt, was VR-Sex für Behinderte bedeuten könnte, die z.T. absolut keine/n Partner/in finden können, nicht zuletzt, weil viele meinen, „so ein” Mensch habe wahrscheinlich überhaupt keine sexuellen Bedürfnisse. Und denken Sie doch einmal an viele einsame, schüchterne Mauerblümchen-Typen und Menschen, die (z.B. durch Unfall oder Feuer) verunstaltet wurden, daß sie niemanden finden, dessen Herz ihr Aussehen verkraften kann… /// c. Stellen Sie sich vor, daß Ehepartner, die räumlich weit getrennt leben müssen, sich zumindest „ziemlich nahe” kommen können – immer noch besser als gar nichts. Im Klartext: Vor lauter Sich-Erregen (man beachte die Wortbildung) hat noch keiner der Leute, die ich bisher gehört habe, auch nur einen Gedanken daran verschwendet, ob das Ganze nicht auch positive Aspekte haben könnte. Im übrigen gilt für VR-Sex wie für Porno im Internet das gleiche: Über den geringen Anteil an Porno (an dem allerdings klotzig verdient wird) wird soviel geredet, daß potentielle Nutzer Null Bock (oder völlig falsche Hoffnungen) auf das INTERNET bekommen. Ob da vielleicht Methode dahintersteckt? Oder ist das eine Auswirkung der Tatsache, daß Medienmacher und Journalisten halt am meisten über das reden, wovon Sie etwas verstehen…? So hört man in den Medien so gut wie nichts über wissenschaftliche Recherchen im Internet, man erfährt nirgendwo, wie man eine Suchmaschine intelligent bedient oder wie man in solchen Kreisen chattet – da trauen sich viele nicht ran, weil sie zu wenig wissen…
Das war eine Mini-Auswahl von Möglichkeiten für VR-Techniken der Zukunft!!!
Beste Quellen für Einsteiger in die Thematik (inkl. all derer, die bisher dachten, VR sei nur eine Nintendo-Spielchen-Variante!): RHEINGOLD, Howard: Erstens eines seiner Bücher (Virtuelle Welten) sowie zahlreiche Internet-Beiträge von ihm, insbesondere auch zu Sci.Vis (vgl. Punkte 4 und 6) … www.RHEINGOLD.com /// NEGROPONTE, Nicholas: Erstens das Buch des Media-Lab Begründers Total Digital sowie zahlreiche Internet-Beiträge von ihm … /// Frank OGDEN, better known as Dr. Tomorrow, has an interesting website: Cyberdenone.com /// PM (die Monatszeitschrift) hat zu manchen dieser Schwerpunkte immer wieder Artikel gebracht und wird es in der Zukunft wieder tun.
Mit liebem Gruß, Ihre Vera F. Birkenbihl, Odelzhausen 2002