Eine Frage, die im Zusammenhang mit Lebenshilfe (Büchern, Seminaren, Vorträgen oder Beratungsgesprächen) immer wieder auftaucht, ist die folgende: „Inwieweit sind die angebotenen Ideen praktisch anwendbar?“ (Anders ausgedrückt: Wie hoch ist der praktische Nutzen dieser Ideen?) Dabei wird impliziert:“ Je höher der praktische Nutzen, desto wertvoller das Produkt“.
Im ersten Ansatz mag dieser Gedanke ja einleuchten. Aber wenn wir ihn bis zu seiner letzten Konsequenz verfolgen, taucht ein weiterer Gedanke auf, der mich zutiefst beunruhigt. Wollen wir für einen Augenblick den Blickwinkel von Pythagoras (einem der größten mathematischen Denker der Antike) einnehmen, der auf seinen Reisen nach Mesopotamien zu seiner großen Verwunderung feststellte: Die Ägypter und die Babylonier führten ihre (teilweise recht komplizierten) Berechnungen mit Hilfe von „Rezepten“ aus. Der Vorteil bestand darin, daß man diese Anweisungen „blind“ befolgen konnte, ohne das Prinzip je begriffen zu haben. Somit konnte jeder „Depp“ die Kalkulationen ausführen.
In anderen Worten: Diese Rechner vom Dienst konnten in etwa so eingesetzt werden, wie wir heute den Taschenrechner zur Hand nehmen, um die eigentliche Berechnung auszuführen. Niemand erwartet „Intelligenz von einem Rechner“, nur mechanische Ausführungen gemäß Gesetzmäßigkeiten, die andere Menschen irgendwann einmal festgelegt haben – denkende Wesen mit tiefen Einsichten, welche letztlich zu den einfachen praktischen Patent-Rezepten führten, die einfache Sklaven anwenden konnten.
Dieser Vorteil mag für bestimmte einfache Tätigkeiten durchaus wünschenswert sein. Angenommen, Sie benötigen die Ergebnisse bestimmter Berechnungen (z.B. Wurzelziehen), dann ist es sicher angenehm, einen Taschenrechner für die mechanische Tätigkeit des Rechnens einzusetzen, aber der Knackpunkt ist doch der, daß Sie genau wissen, warum Sie diese Ergebnisse benötigen und welchen Gedankengang Sie anschließend mit diesen Zahlen weiter verfolgen wollen.
Leider bietet unser Schulsystem zwar viele isolierte Techniken (wie das Wurzelziehen) an, aber man erfährt erst Jahre später (oder nie), welche Probleme mit Hilfe dieser Techniken denkerisch angegangen werden können. Dadurch glauben wir fälschlicherweise, diese Techniken seien das eigentlich Wesentliche; das heißt, wir nehmen die Rolle der ägyptischen und babylonischen Sklaven ein. Bei rein mechanischen Details unseres Lebens mag dies von Vorteil sein, aber wenn es um Lebenshilfe im weitesten Sinn geht, wird diese Einstellung außerordentlich gefährlich, denn unsere gewohnheitsmäßige Suche nach Patent-Rezepten verhindert eigenständiges Nachdenken.
Diese Suche verhindert auch, daß wir Verantwortung für unser Leben übernehmen! Deshalb wollen wir „Techniken“ (die wir dann mechanisch Schritt für Schritt „abarbeiten“ können) für alle möglichen wichtigen Lebensbereiche (von Verhandlungs-Techniken über Techniken zur Menschenführung bis zu Zeitplan-Techniken) für unser eigenes Leben. Deshalb tauchen in Seminaren immer wieder verzweifelte Fragen nach Schritt-für-Schritt-Anleitungen auf, z.B. beim Fixstern-Seminar nach konkreten, detaillierten Zielfindungs-Techniken. Dahinter steht das von unserem Schulsystem erzeugte Bedürfnis nach einfachen Anordnungen, die man befolgen kann, ohne das Problem zu begreifen. Dies aber muß bei allen großen Fragen unseres Lebens (beruflich wie privat) zu katastrophalen Auswirkungen führen, außer man möchte „Sklave“
sein … Wer jedoch nicht „gelebt“ werden möchte, muß sich darauf einlassen, mit Hilfe von Anregungen (Tips und Ideen) sein eigenes Leben zu MEISTERn. Das meinte auch ein anderer berühmter Denker der Antike (Sokrates), als er sagte: „Das nicht durchdachte Leben ist nicht wert, gelebt zu werden.“ Und hierzu will der Denkanstoß „Ihre seelische Entwicklung?“ Sie einladen.
Wenn Sie z.B. wichtige Ziele für Ihr Leben entdecken wollen, müssen Sie sich lange fragen: „Was will ich (wirklich)?“, bis Antworten „auftauchen“. Natürlich dauert dies um so länger, je leiser Ihre „innere Stimme“ spricht (vielleicht, weil Sie zu lange nicht zugehört haben?). Aber die Antworten, die Sie letztlich erhalten, sind Ihre eigenen. Dabei ist der Prozeß, den Sie durchlaufen, bis Sie diese Antworten entdeckt haben, mindestens genau so wichtig wie die Resultate …
Vera F. Birkenbihl, Odelzhausen 1993