RAINER ||| Was man auf jeden Fall über Programmierten Unterricht und Vera F. Birkenbihl wissen sollte

Vera F. Birkenbihl war bei weitem kein Einzelfall, als sie in der BRD der 1950er und frühen 1960er an den „verstaubten“ Unterrichtsmethoden zweifelte und verzweifelte. Kinder und Jugendliche hatten es allgemein schwer mit Pädagogen aus der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reichs und deren Lehrverfahren, denn das Schulwesen der Nachkriegszeit basierte nach wie vor auf preußisch-autoritärer Mentalität. Oberste Priorität hatten seinerzeit Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit und Gehorsam – allesamt „preußische Sekundärtugenden“, wie man sie nannte und auf die man an Lehranstalten Wert legte. Der Schulalltag war damals geprägt durch Ruhe („… wer nachfragt, stört …“), büffeln und pauken. Wissen wurde den SchülerInnen „eingetrichtert“, die guten nach dem „Eins rauf mit Mappe“-Prinzip offen gefördert, durften sich in eine vordere Reihe nahe zur Lehrkraft setzen, während die schlechten nach hinten durchgereicht wurden, weit weg vom Lehrerpult.

Obwohl es in Deutschland hier und da durchaus humanistische Entwicklungen gab, veränderte die Machtergreifung der Nationalsozialisten das Schulwesen grundlegend. Galt beispielsweise die Bayerische Landeshauptstadt zuvor als Vorreiter der Reformpädagogik, die im Unterschied zum Anfang der 20. Jahrhunderts noch vorherrschenden Frontalunterricht eine Erziehung vom Kind aus vorsah und auf das Bildungsideal der griechisch-römischen Antike im Bewusstsein der Würde des Menschen aufbaute, war damit ab 1933 weitgehend Schluss. Sämtliche reformpädagogischen Ansätze wurden untersagt und es wurde von den Nazis wieder als oberstes Erziehungskonzept Disziplin und Gehorsam vorgegeben, worunter u. a. auch VFBs Großvater Prof. Dr. Michael Birkenbihl leiden musste.

Mit dem Zusammenbruch am Ende des Dritten Reichs fielen Lehrkräfte jedoch nicht vom Himmel, sondern man bediente sich in Zeiten, in denen sich viele Männer noch in Kriegsgefangenschaft befanden, eines Netzwerks aus einst regimetreuen, gleichwohl alten Pädagogen, die nun als „entnazifiziert“ galten. Das führte in nicht gerade wenigen Fälle dazu, dass SchülerInnen immer noch und teilweise wegen bereits „geringfügigem Ungehorsam“ körperlich misshandelt wurden. Lineal, Zeigestock oder die flache Hand wurden genutzt, um auf Körperteile einzuschlagen, es wurde mit Gegenständen nach den SchülerInnen geworfen und nicht selten wurden Kinder und Jugendliche am Ohr gezogen oder in eine Backe gekniffen. Ob oder wie Vera F. Birkenbihl in der Schule körperlich mißhandelt wurde und wie man in der Familie damit umging, ist nicht bekannt. Aber sie fühlte sich im Schulwesen der damaligen Zeit mindestens seelisch gequält, da sie viel nachfragte und daher oft als Störfaktor im Unterricht gesehen und gemaßregelt wurde. Den Weg zum Abitur brach sie nach dem Tode des Großvaters ab, was sie später u. a. mit den den Schwächen des Deutschen Schulsystems begründete, das zu linear auf das Pauken setzte und nicht die Lernbedürfnisse der SchülerInnen in den Mittelpunkt seines Wirkens stellte.

1965 wanderte sie mit ihrem Vater in die USA aus und der Rest ist bekannt. Doch interessanterweise tat sie dies genau in dem Moment, in dem sich in der Schul- und Unterrichtslandschaft der Bundesrepublik ein Paradigmenwechsel abzeichnet, wodurch dieser nahezu komplett an ihr vorbeiging. 1964 leitete das sog. Hamburger Abkommen die Reform der unteren Schulformen und Vereinheitlichung der Schulsysteme der Bundesländer ein. Es folgten bis zum Ende der 1960er Jahre der Hochschulausbau als Gemeinschaftsaufgabe von Bund und Ländern und viele Hochschulneugründungen wie die Ruhr-Universität Bochum, die Universität Bielefeld oder in Bayern die Universitäten Augsburg, Passau oder Bamberg.

Ein Klett-Elternbegleitheft
aus dem Jahre 1966

Eine weitere Steigerung des Bildungsniveaus versprachen sich die Reformer durch die Verwissenschaftlichung des Schulunterrichtes und die Oberstufenreform ab den 1970er Jahren. Außerdem sollte das Kurssystem die studienvorbereitende Funktion des Abiturs verbessern. In diesem knappen Jahrzehnt wurden auch die Konzepte für den sog. Programmierten Unterricht, darunter die TextTutor-Programme des Klett Verlags (inklusive Elternbegleitheften), entwickelt und umgesetzt. Letztere erlaubten es den SchülerInnen u. a., nicht nur Lehrplan in den Fokus zu stellen sondern das spielerische Training zu fördern und über Spass am Lernen einen Zugang zu Themen zu erreichen, das von vielen Kindern und Jugendlichen nur deshalb für trocken gehalten wurden, weil sie ihnen nicht mit Herz und Geist beigebracht wurden. Zudem vertiefte eigenverantwortliche Arbeit und (von Lehrkräften unabhängiger) Selbstkontrolle das Verständnis für den Lernstoff – alles Dinge, die einerseits bei SchülerInnen gut ankommen und einem andererseits aus Werk und Wirken von Vera F. Birkenbihl vertraut bekannt vorkommen. Gleichwohl: Durch ihren zeitgleichen Aufenthalt in den USA bekam VFB davon so gut wie nichts mit.

Immer noch in den Erinnerungen an ihre eigenen Schulerlebnisse gefangen sowie beflügelt durch die ersten Lehr-Erfolge in St. Louis und innovative US-Lernmethoden, benannte Vera F. Birkenbihl nach ihrer Rückkehr in die Heimat – die Olympischen Spiele in München 1972 waren gerade zu Ende gegangen – schnell die Schuldigen für die Bildungsmisere der Bundesrepublik Deutschland: Lehrkräfte, die trockenen, uninspirierenden Unterricht vermittelten und Schulbuch-Verlage mit ihren rückständigen Machwerken. Auf Lernerfolge durch Programmierten Unterricht ging sie nicht ein, propagierte stattdessen ihre eigenen Methoden und entwickelte diese bis zum Ende der 1970er Jahre weiter.

Das wiederum führt über den Punkt, wie sich Vera F. Birkenbihls Arbeit grundsätzlich entfaltet hätte, wäre sie nicht in die USA gegangen, zur entscheidenden Frage, wie VFB mit den Ansätzen der Lernprogramme umgegangen wäre und sie möglicherweise gestaltet hätte, wenn sie diese seinerzeit in Deutschland miterlebt hätte?