VERA ||| Die Nacht vom 2. auf den 3. Dezember 2011

Vorgeschichte: Noch nicht einmal ein Jahr nach dem Ende des 2. Weltkriegs wurde Vera Felicitas Birkenbihl in München geboren. Ihr Vater wurde ein Vierteljahrhundert später als Unternehmensberater und Autor (u. a. „Train the Trainer“) bekannt, ihr Großvater war ein in der bayerischen Landeshauptstadt zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehener Professor und Autor/Übersetzer. Eine sorgenfreie oder behütete Kindheit und Jugend hatte sie jedoch nicht. Nach massiven Problemen mit dem damaligen Schulwesen brach die von einer leichten Autismus Spektrum Störung Betroffene das Gymnasium ab und ging 1965 mit ihrem Vater in die USA.

Dort holte sie ihren Abschluss nach und begann ein Studium der Psychologie, jobbte auf verschiedenste Weise um genug Geld zu verdienen und ein selbständiges Leben zu führen. Sie heiratete, wurde aber schon wenig später wieder geschieden und entwickelte Ende der 1960er Jahre auf Basis von Erkenntnissen der Hirnforschung gehirngerechte Lerntechniken, die sie zuerst in den USA und ab Ende 1972 dann in Deutschland in Vorträgen und Seminaren unter die Menschen brachte – bis zu ihrem Tod im Dezember 2011 füllte mit ihren Veranstaltungen ganze Säle und schieb Dutzende Bücher.


Rainer W. Sauer berichtet: »Gelegentlich sagen Menschen, sie könnten sich an ganz bestimmte Tage noch sehr gut erinnern. Bei mir ist das der 2. und 3. Dezember 2011, aber dies ist reiner Zufall und das kam so:

Am 4. November 2011 nahmen sich in Eisenach zwei Bankräuber das Leben, die man schnell als die in Jena aufgewachsenen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt identifizierte und durch sie kam man der rechtsradikalen Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) auf die Spur. Innerhalb weniger Wochen fanden die Ermittler heraus, dass diese gemeinsam mit der ebenfalls aus Jena stammenden Beate Zschäpe für die Ermordung von zehn Menschen und Bombenanschläge verantwortlich waren. Nachdem man in der Saalestadt schon in den Jahrzehnten zuvor immer wieder (wie man nun wusste: aus gutem Grund) „… gegen rechts …“ Veranstaltungen organisiert hatte, entstand in Jena schnell die Idee eines Konzerts „Rock gegen Rechts“ am 2. Dezember 2011 u. a. mit Udo Lindenberg und dem Panikorchster, der Band SILLY, Peter Maffay, Clueso und Julia Neigel; für das lokale Hörfunkprogramm RADIO JENA begleitete ich dieses vierstündige Event, das auch im TV übertragen wurde.

Zeitgleich mit dem Konzert telefonierte in Barleben bei Magdeburg Dr. Dieter Böhm, studierter Pädagoge und Psychologie, der über viele Jahre als enger Mitarbeiter und Assistent von Vera F. Birkenbihl arbeitete, mit der gerade von einer schweren Krebserkrankung genesenden Managementtrainerin und Sachbuchautorin, die seit 2008 in Osterbeck-Scharnhorst bei Bremen lebte. 2011 war ihr „Annus horribilis“ geworden, das persönliche Schicksalsjahr: Im April war bei der bereits unter einer Lungenkrankheit leidenden 65-jährigen ein Ösophaguskarzinom – agressiver Krebs im fortgeschrittenen Stadium – festgestellt worden. Sie wurde operiert, schonte sich jedoch anschließend nicht und entwickelte stattdessen neue Seminare über Behandlungsqualität für Ärzte und Pflegekräfte der Bremer Klinik. Nachdem im Sommer die mühsam zurückerlangten Kräfte wieder schwanden, versetzte man Birkenbihl über mehrere Wochen in ein kontrolliertes künstliches Koma; danach wurde sie weiter therapiert und im Oktober 2011 schließlich nach Hause entlassen. Von dort arbeitete sie geschwächt aber mit ungebremstem Tatendrang weiter. Auch am Freitag, den 2. Dezember 2011.

In Jena schnitt ich in der Nacht von Freitag auf Samstag die Audioaufnahmen vom Konzert für eine RADIO JENA Sondersendung, die am Folgetag ausgestrahlt werden sollte. Es war ein regnerischer Abend gewesen, so um die 5 Grad kalt, und die Nacht wird ebenso gewesen sein. Gegen 3 Uhr beendete ich die Arbeit und speicherte die Sendung ab. Zuletzt hatte ich am Mitschnitt des Udo Lindenberg Konzerts gearbeitet. Stunden zuvor hatte Vera F. Birkenbihl im Gespräch mit Dr. Böhm diesen gefragt, ob er nicht kurzfristig in das rund 260 km entfernte Osterbeck-Scharnhorst kommen könne, er aber konnte nicht, hatte leider andere Verpflichtungen. Am frühen Morgen des 3. Dezember 2011 erlitt Birkenbihl eine Lungenembolie als Folge ihrer schweren Erkrankungen bzw. deren Behandlung, die sie nicht überlebte.

Bei einer Embolie verstopft ein Blutgerinnsel Blutgefäße der Lunge und es entstehen plötzliche Atemnot, Brustschmerzen, Schwindel und Benommenheit sowie Herzprobleme. Möglichst schnell im Krankenhaus behandelt ist eine Lungenembolie nicht wirklich lebensbedrohlich. Birkenbihls Embolie muss jedoch so schnell und unerwartet gekommen und so schwer gewesen sein, dass es ihr nicht mehr gelang, um Hilfe zu telefonieren – sie verlor das Bewusstsein und verstarb rund viereinhalb Monate vor ihrem 66. Geburtstag. Leblos aufgefunden wurde Vera F. Birkenbihl am nächsten Morgen von Heide Freymann, ihrer Haushälterin, die, nachdem der Notarzt den Tod offiziell festgestellt hatteung des Todes durch den Notarzt sofort bei Dr. Böhm anrief. Dieser informierte dann die Presse.

Bei einer bewegenden Trauerfeier konnten sich eine Woche später Freunde und Bekannte in der Kapelle des Hamberger Friedhofes nahe Osterholz-Scharmbeck von ihr verabschieden, danach wurde die Urne mit den sterblichen Überresten von Vera. F. Birkenbihl auf dem Friedhol beigesetzt. Anstelle freundlich zugedachter Kränze und Blumen hatte sie um eine Zuwendung für die Ashoka-Gruppe-Deutschland gebeten; ihr vermachte Birkenbihl auch ihr gesamtes Vermögen und den Nachlass, denn der „Ashoka Table“ von Bill Drayton war es gewesen, der Vera F. Birkenbihl Ende der 1960er Jahre ermöglichte, in ihrer damaligen Wahlheimat St. Louis die ersten brain-friendly-Kurse abzuhalten. Das hatte sie Ashoka nie vergessen.«