Lesen Sie HIER Teil 1 des Artikels!
Schritt 3: DER VERSUCH, IN DER ZIELSPRACHE ZU SPRECHEN ODER LAUT VORZULESEN /// Problem: Die Lernenden sollen die Wörter von Anfang an richtig aussprechen. Entweder während des Vokabelpaukens oder während des Unterrichts (wo die Zielsprache vom ersten Augenblick an gesprochen werden soll). Diese Methode wird zwar als „modern“ angesehen, ist aber nicht gehirn-gerecht. Beachten Sie, dass Babys der Sprache monatelang zuhören, bevor sie versuchen, die Klänge nachzuahmen, die sie so oft gehört haben, während wir von Sprachenlernern erwarten, dass sie sofort Klänge nachahmen, mit denen sie noch gar nicht vertraut sind.
Gefahr: Lernende werden die Worte nicht nur schlecht (oder falsch) aussprechen, sondern sie werden außerdem die unangenehme Fremdheit mit Gefühlen der Frustration und des Versagens verbinden. Diese unerfreulichen Gefühle werden eng mit der Zielsprache verknüpft (oder mit dem Sprachenlernen an sich) und schaffen als Aus-WIRKUNG genau die „negative Einstellung zum Lernen“, die so viele Lehrer/Eltern als vorrangige URSACHE bezeichnen.
Schritt 4: ANWENDUNG /// Problem: Lehrkräfte lieben Grammatikaufgaben. Von den Lernenden wird erwartet, dass sie an Übungen Gefallen finden, die sie nicht mögen. Beachten Sie: Weniger als 8 Prozent aller Menschen finden Gefallen an Grammatikübungen – sogar in ihrer Muttersprache. Wollen wir doch einmal „Angebot und Nachfrage“ vergleichen: Im Wirtschaftsleben wissen wir, dass gute Anbieter in Erfahrung bringen, was die Kunden wollen, um mehr zu verkaufen. Im Schulbetrieb ist es genau umgekehrt: Erstens haben die meisten Lehrkräfte (… wir haben Tausende in Seminaren befragt …) keine Ahnung, was sich ihre Schüler im Optimalfall wünschen würden. Zweitens wären die meisten nicht bereit, auf die Wünsche Ihrer „Kunden“ einzugehen. Im Gegenzug haben wir Tausende von Seminar-Teilnehmern in Ihrer Rolle als Selbstlernende oder Eltern befragt, und sehr genau herausbekommen, was sie erwarten (… aber nicht erhalten). Im Vergleich wird deutlich: NACHFRAGE und ANGEBOT.
Wir sehen also: Das, was wir als Lernende am meisten SUCHEN, erhalten wir nicht. Dafür bekommen wir jede Menge Übungen, die nicht helfen, was Studien seit den 1930er Jahren klar belegen. So berichtet Alfie KOHN (in „The Schools Our Children Deserve“) über eine Langzeit-Studie, bei der SchülerInnen während ihrer Highschool-Zeit (4 Jahre) und dem anschließenden Studium (ebenfalls 4 Jahre) beobachtet wurden. In diesem speziellen Fall gab es im Fach Englisch (das heißt hier: … in der Muttersprache …) Grammatikübungen weder während des Unterrichts noch als Hausaufgaben. Stattdessen wurde mehr GELESEN oder Theater gespielt, also aktiv mit Sprache GEARBEITET, Sprache gebraucht, benutzt, erfahren.
Die Colleges nahmen diese SchülerInnen ohne Sprach-Eingangstest auf und es stellte sich heraus: Sie waren auf dem Papier mit Schülern „normaler“ Highschools vergleichbar (= Fortkommen, Noten etc.), unterschieden sich aber in einem Aspekt dramatisch von ihnen: Sie hatten viel mehr Zeit, um „zu leben“ und Erfahrungen zu sammeln (… sie spielten Theater oder Instrumente, waren im Sport-Team des College oder betätigten sich anderweitig …), als ihre KommilitonInnen, die 4 Jahre in der Highschool mit unnötigen Grammatikübungen gequält worden und mit tiefen Gefühlen des Selbstzweifels ins College gekommen waren. Ich habe nichts gegen Grammatik, im Gegenteil: ich gehöre zu den wenigen Menschen, die Grammatik lieben. Aber ich habe etwas dagegen, das Lernen für Kinder auf einer Kunstform aufzubauen, die ein 60jähriger Inder (PANINI) vor 2.500 Jahren erfand, weil er mit seinen Altersgenossen gern eine Art Wort-Sudoku spielte.
Diese Kunstfertigkeit ist eine bewundernswerte kulturelle Höchstleistung, aber keine Voraussetzung, um eine fremde Sprache zu sprechen. Das gehört zu der Technik des Mittelalters, als Mönche nach einer Möglichkeit suchten, ihren Mitbrüdern die Grundlagen einer Sprache zu vermitteln, von deren Meisterschaft demnächst ihr Überleben abhängen würde (siehe Teil 1 des Artikels)! Aber von einem Zehnjährigen aus einem bildungsfernen oder gar bildungsfeindlichen Milieu zu fordern, eine Fremdsprache über diesen UMWEG zu erlernen – und das im Zeitalter von Ton- und Bildaufzeichnungen, die uns Tausende von VORBILDERN zum Imitieren bieten –, ist nicht nur unfair, es legt langsam die Vermutung nahe, dass doch SYSTEM hinter all den Behinderungen steckt, die Kinder im Schulalltag erfahren. /// Gefahr: Weitere Erfahrungen von Unfähigkeit und Frustration vertiefen die Abneigung gegen die Zielsprache oder das Sprachenlernen. Bald kann sich dieses Abwehrgefühl auch auf das Lernen schlechthin ausweiten, dann wird Schule für Millionen von Opfern zum täglichen Kampf, die wir dann auch noch zu Tätern machen, indem wir sie als demotiviert, faul etc. bezeichnen.
Fazit: Dass die Täter den Opfern die Schuld aufbürden, gibt es in der freien Welt nirgendwo außer im Schulsystem! Denn normalerweise untersucht man das Material (z. B. Schulbücher) und die Methoden, wenn etwas nicht funktioniert, nicht aber die Kunden (= Opfer) dieser Techniken. Jede Firma wäre pleite, wenn sie die Schuld für die schlechten Ergebnisse ihren Kunden zuschieben würde!
Mit liebem Gruß, Ihre Vera F. Birkenbihl, Odelzhausen