Schon als Schülerin wurde mir klar, dass vieles im Schulbetrieb kontra-produktiv ist, z.B. das sinnlose, sture Pauken (von Formeln, Geschichtszahlen, Vokabeln etc.). Aber jeder Versuch, etwas in Frage zu stellen, führte unweigerlich zu massiver Kritik an meiner Person. (…) So gut wie alle SchülerInnen neigen dazu, „Auflösungen“ (in Latein oder Englisch) direkt unter das betreffende Wort zu schreiben – was uns jedoch strengstens untersagt wurde.
Mein erster Schüler, Panajiotis, ein junger Ingenieur aus Griechenland, machte dasselbe. Zuerst versuchte ich, es ihm zu verbieten (wir lehren, wie wir gelehrt wurden), aber ein 30jähriger Mann lässt sich von einer 13jährigen nichts verbieten. Und so konnte ich sehen, wie hilfreich diese wortwörtliche Übersetzung für ihn war. Bald begann ich einen Selbst-Versuch mit dem ersten Assimil-Sprachkurs („Italienisch ohne Mühe“), der in Deutschland erstmals im Jahr 1958 (also ein Jahr davor) erschienen war. Ich schrieb jede Lektion ab und ließ immer zwei Zeilen frei: eine für die (wörtliche) Dekodierung und eine, um meine logische Doppelzeilen-Einheit von der nächsten zu trennen.
Dabei half mir, dass Assimil immer auch eine Satz-für-Satz-Übersetzung der jeweiligen Lektion anbot (was in Schulbüchern sowie in Kursen für erwachsene SelbstlernerInnen bis heute weitgehend fehlt). Ich merkte also, wie gut ich mit dem Italienischen vorankam während ich in Latein und Englisch in der Schule weiterhin konstant Fünfer schrieb. So begriff ich in zunehmendem Maße, dass ich außerhalb der Schule sehr wohl lernen konnte, nicht aber dort. Mein „Schulversagen“ führte dazu, dass ich die Schule nach der 10. Klasse (damals „5. Klasse“ auf dem Gymnasium) verlassen musste und mich mit Jobs durchschlug, während ich einen Weg suchte, doch weiterzumachen. Durch meine inzwischen zahlreichen SchülerInnen erfuhr ich, dass man in den USA eine Prüfung ablegen konnte, die einem das Studium erlaubte, falls man die nötige Mindestpunktzahl erreicht. Das tat ich dann auch, und so kommt es, daß ich ohne Abi in den USA studieren konnte.
Dort lernte ich im ersten Semester in einem Kurs die MNEMO-Technik kennen, eine 2.500 Jahre alte Art, sich „schwere“ oder sinnlose Infos (Telefon- oder Pin-Nummern, fremde Namen, Jahreszahlen etc.) mit Hilfe von Bildern oder Bildgeschichten einzuprägen. (…) Kurz darauf stieß ich auf die bahnbrechenden Erkenntnisse von Roger SPERRY, der 1965 publizierte und 1981 den Nobelpreis für seine Forschung erhielt. Und mir wurde klar, dass das Modell der beiden unterschiedlich arbeitenden Gehirn-Hemisphären (linkes und rechtes Hirn) damals hervorragend erklären konnte, warum MNEMO-technische Strategien so gut funktionieren. Ich „sah“ damals geradezu „Mr. Links“, der die Worte digital verarbeitet, während „Mr. Rechts“ die Bilder dazu generiert.
Zwei Generationen später wissen wir, dass vor allem Männerhirne stark „lateralisiert“ sind (weil Frauen auch im Kopf mehr miteinander „reden“, das heißt ihre Gehirnhälften kommunizieren sehr viel direkter), so dass ich das Modell der beiden „Mr.“ im Gehirn fallen ließ. In der Zwischenzeit hatte ich aber bereits zahlreiche zusätzliche Fakten integriert und jahrelange Versuche durchgeführt, so daß neue Modelle die alten ersetzten konnten. Was sich aber dabei schon sehr früh abzeichnete, war: Das normale Vorgehen an den meisten Institutionen des (angeblichen) Lernens ist oft sehr stark GEGEN die Arbeitsweise des Gehirns gerichtet und kann deshalb nicht funktionieren.
Deshalb griff ich 1969 (noch in den USA) den Begriff „brain-friendly“ auf, der damals in aller Munde war, und übersetzte diesen später in Deutschland in „gehirn-gerecht“ (mit Bindestrich!). Ich denke also seit nunmehr 50 Jahren ununterbrochen über das Lernen, Lehren, didaktische Methoden etc. nach. Seit 40 Jahren erwachsen daraus Vorträge, Seminare, Artikel, Bücher, seit ca. 1995 auch DVD-Mitschnitte, von denen man einige seit ein paar Jahren (in voller Länge) im Internet sehen kann, z.B. „HIRNE ANKNIPSEN?“
Fazit: Wenn wir die Methoden ändern , werden wir „intelligenter“. Hat also eine Person Probleme beim Sprachenlernen, wiewohl sie ihre Muttersprache gut geMEISTERt hat, liegt es zu 100% an der Methode (nicht am fehlenden Talent)! Die Doppel-Checkliste in „Trotzdem LEHREN“ zeigt, wie man als Lehrende/r testen kann, ob der Unterricht gehirn-gerecht ist. Interessanterweise können dies nun auch die Opfer feststellen, was die Situation nachhaltig verändert. Denn eine stur Frontalunterricht anbietende Lehrkraft kann nicht länger behaupten, die Opfer seien selbst schuld (weil demotiviert, faul, desinteressiert etc.). Fast jedem ist mittlerweile bekannt, dass der Sender verantwortlich für die Botschaft ist. Nur jenen, die unsere Kinder in ihrer Gewalt haben, soll weiterhin erlaubt sein, die Opfer für schuldig zu erklären. Warum eigentlich??? Wollen wir unsere Kinder auf diese Weise fit machen für das Wissens-Zeitalter, dessen erste Ansätze wir bereits erkennen können? Wollen wir den Weg zur bildungspolitischen „Bananenrepublik“ weiterhin beschreiten?
Sie sehen also, wie wichtig es ist, zu begreifen, dass gehirn-gerechte Maßnahmen aus angeblich demotivierten und untalentierten SchülerInnen motivierte, begabte junge Leute machen! Und erwachsene SelbstlernerInnen können nur profitieren, wenn sie sich beweisen, daß auch sie Sprachen lernen können. Das ist immens gut fürs Selbstwertgefühl, egal wie jung/alt man ist!
Mit liebem Gruß, Ihre Vera F. Birkenbihl, Osterholz-Scharmbeck 2010
[Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Münchner Verlagsgruppe GmbH]