Die US-Amerikanerin Alison Gopnik ist PhD und u.a. Professorin für Psychologie an der University of California in Berkeley und hat sich internationale Anerkennung bei der Erforschung des Lernens und der Entwicklung von Kleinkindern und Kindern erworben. Sie ist bekannt geworden für ihre Forschung auf dem Gebiet der kognitiven und sprachlichen Entwicklung, insbesondere des kausalen Lernens bei Babys und war die erste Wissenschaftlerin, die offenlegte, wie der Verstand von Kindern Erwachsenen helfen könnte, tiefe philosophische Fragen zu verstehen. Gopnik gilt außerdem als eine der Begründerinnen der sog. „Theory of Mind“ (… auch „ToP“ oder „Theorie des Mentalen“), die aufzeigt, wie wir dazu kommen, den Geist anderer Menschen zu verstehen. 2013 wurde sie zu einem Mitglied der American Academy of Arts and Sciences gewählt.
Alison Gopnik ist Autorin von über 100 Artikeln und mehreren Büchern, worunter einige im Zusammenarbeit mit Andrew Meltzoff und Patricia Kuhl entstanden sind. Das Buch „The Scientist in the Crib“ des Autorenteams wurde zu einem Bestseller, der in 20 Sprachen übersetzt wurde und in verschiedensten Zeitschriften und Zeitungen begeistert rezensiert wurde. In „How babies think“ geht es darum, was im Kopf eines Babys in verschiedenen Altersentwicklungsstufen vor sich geht.
Sehr lange war das Bild von Kleinkindern und Kindern, sowohl in der Wissenschaft als auch in der Philosophie davon geprägt, dass sie irgendwie Erwachsene seien, denen jedoch Teile des Wissens und der Erkenntnis fehlen. Hätte man im ausgehenden 20. Jahrhundert Leute gefragt, wie Babys denken, dann hätten die meisten von ihnen, einschließlich vieler Psychologen, gesagt, dass dieses Baby irrational und unlogisch agiere und jenes egozentrisch ist, da Babys nicht in der Lage seien, die Perspektive einer anderen Person einnehmen zu können oder Ursache und Wirkung zu verstehen – so dachte man jedenfalls. Heute wissen wir, dass sogar (O-Ton Gopnik) „diese winzigen Babys“ eine Menge der Arten des Denkens und Lernens beherrschen, die auch als das Lernprinzip sehr erfahrener Wissenschaftler anzusehen sind. Die Autorin empfiehlt, sich beispielsweise neben ein 15 Monate altes Kind zu setzen, es eine Viertelstunde lang intensiv zu beobachten und dabei zu zählen, wie viele kindliche Experimente, wie viel konzentriertes Handeln man bemerkt „… und es wird den brillantesten Wissenschaftler beschämen.“
Ich beispielsweise gehe mit meinem Enkel Oliver spazieren, der anderthalb Jahre alt ist. Und was macht Oliver? Das erste, was er bemerkt, ist eine kleine Treppe, die zu einem Spielplatz führt. Die wurde er noch vor Wochen empor gehoben, dann ist er sie nach oben gekrabbelt, erst langsam, dann schneller, später an der Hand nach oben gestiegen. Das will er nun nicht mehr. Er greift das Geländer und versucht Stufe für Stufe selbst zu erklimmen. Stolpert er, versucht er es noch einmal, und dann noch einmal. Aber dann bemerkt er, dass direkt neben der Treppe ein paar Blumen sind. Dass es Löwenzahn ist, weiß er nicht und spielt auch kaum eine Rolle – für ihn sind es Blumen, die im Gras stehen. Also muss er sich durch das Geländer hinüberlehnen und versuchen sie zu greifen und zu fühlen, um festzustellen, ob es Blumen sind, die er schon zuvor angefasst hat. Dann fängt er plötzlich an, Laute von sich zu geben, weil er Amseln gehört hat.
Oliver beobachtet und handelt und experimentiert und versucht, all diese Dinge gleichzeitig in den Griff zu bekommen, die wir einfach für selbstverständlich halten. Aber laut Alison Gopnik machen wir das nur, weil wir sie erlernt haben, als wir 15 oder 18 Monate alt waren. Denn betrachtet man sich das Erkundungsspiel der Kinder wissenschaftlich, dann merkt man, wie sie sich auf alles was ihnen in den Sinn kommt einlassen und die Welt um sich tatsächlich auf eine systematische Weise erfassen und sich damit beschäftigen, wie die Dinge da draußen in der Welt außerhalb ihres Zimmers funktionieren.
Damit sie die Zusammenhänge lernen, schreibt Gopnik, können sich Babys, Kleinkinder und Kinder sehr schlecht auf nur eine einzige Sache konzentrieren, sind aber sehr gut darin, viele Informationen aus vielen verschiedenen Quellen gleichzeitig aufzunehmen. Und wenn man tatsächlich in ihre Gehirne schaut, sieht man, dass diese mit genau jenen Neurotransmittern überflutet sind, die wirklich Lernen und Plastizität induzieren. Und wie schon Vera F. Birkenbihl feststellte: in dieser Phase der menschlichen Entwicklung macht uns das Lernen noch Spaß und Vergnügen, da hemmenden Momente so gut wie nicht vorhanden sind. Die kommen erst später in Schule oder Lehre bzw. Studium.
Natürlich ist man, wenn man erwachsen ist, froh darüber, kein Kind mehr zu sein. Wir können arbeiten und Geld verdienen, eine Familie gründen oder auf Reisen gehen. Aber wenn wir uns mehr Aufgeschlossenheit für offenes Lernen wünschen und Vorstellungskraft, Kreativität und Innovation wollen, zumindest gelegentlich, sollten wir Erwachsenen versuchen, mehr wie unsere Kinder zu denken.
In diesem Sinne
Ihr Rainer W. Sauer