Vorgeschichte: Prof. Dr. Michael Birkenbihl war der Großvater von Vera Felicitas und unterrichtete ab 1911 u.a. an der Handelsakademie in München. Gegen Ende des Kaiserreichs hatte er es als Philosoph, Lehrer und Autor von Essays, Erzählungen, Novellen und Biografien sowie als Übersetzer zu einer gewissen Bekanntheit und Ansehen gebracht. 1917 schrieb er für die „JUGEND – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben“ einen literatur-wissenschaftlich philosophischen Text unter dem Titel „Die Poesie der Gefangenen„. Hierbei erwähnte er auch das Buch „Selbsterlebnisse im Gefängnis und Irrenhaus.“ des ehemaligen Burgschauspielers Danny Gürtler, der im April 1917 geistig umnachtet in einer Irrenanstalt verstarb. Er schrieb hierzu: „Aus deutschen Gedichten jener Gattung möchte ich jenes herausheben.“
Danny Gürtler (eigentlich: Georg Daniel Gürtler) wurde 1875 im hessischen Darmstadt geboren und nach seinem Tode auch dort beigesetzt. Er erlangte im beginnenden 20. Jahrhundert Berühmtheit als Kabarettist, Lyriker und Bühnen- sowie Filmschauspieler. Neben frühen Filmaufnahmen gibt es von ihm auch seltene Tondokumente auf Schallplatte oder Edison-Walzen. Wiederholt hielt der selbsternannte „König der Bohème“ (so der Titel eines seiner Bücher) in Darmstadt sog. „musikalisch-deklamatorische Veranstaltungen“ ab. 1901 begründete er sein eigenes Kabarett „Die Schminkschatulle“ und bespielte mit exzentrisch-kabarettistischem Programm Bühnen im gesamten deutschsprachigen Raum.
Seinen Gang ins Gefängnis Rundeturmstraße Darmstadt aufgrund politischer Inhalte im Kabarettprogramm und dem Ignorieren polizeilicher Verbote inszenierte Gürtler als Triumphzug per Vierspänner durch die Straßen der Stadt. „Menschenmassen“ seien ihm gefolgt, hieß es damals im „Frankfurter General-Anzeiger“ und der Verurteilte warf dabei im Stile eines Herrschenden eifrig Münzen unter „sein Volk“. 1911 wurde er in die hessische Landesirrenanstalt Heppenheim eingeliefert und im gleichen Jahr zu einem Monat Gefängnis wegen Beleidigung der katholischen Kirche verurteilt. 1912 erschienen hierauf bezogene Gedichte und Prosa aus seiner Feder unter dem Titel „Selbsterlebnisse im Gefängnis und Irrenhaus“ beim Verlag Stern-Ellreich / Mannheim im Umfang von 200 Seiten.
Hier ein Auszug aus „Dem toleranten Oberstaatsanwalt v. H. gewidmet.“, der auch deshalb interessant erscheint, als dass er einige neurologische Punkte repräsentiert, die Vera F. Birkenbihl später in ihrer Arbeit betrachtete: »Meine Erfahrungen sind derartig ungeheuerlich, derart krass, dass es wirklich nur dann möglich ist, aufklärend in dieser wichtigen Frage zu wirken, wenn man selbst am eigenem Leibe die Überhebung, den Unfehlbarkeitsdünkel, die schablonenhaft geschäftliche Behandlungsart so mancher Irrenärzte, die Seelenärzte sein sollten, kennen gelernt hat. Welche Kraft gehört dazu, in diesem Falle, wenn bei der Erinnerung an die „Erlebnisse“ sich noch im Inneren die ganze Würde des Menschen aufbäumt, objektiv zu bleiben.
Heute erst, während ich diese Schrift schreibe, verstehe ich die gute Absicht des Herrn Oberstaatsanwalt v. H. Nachdem ich mich durch energisches Vorgehen aus der Anstalt befreit hatte, teilte ich ihm meine Erfahrungen und die Absicht, diese zu veröffentlichen mit, worauf er mir riet, erst noch ein Jahr vorübergehen zu lassen, um ruhig und objektiv zu werden. Ja, welche Kraft dazu gehört objektiv zu bleiben, weiß ich heute, während ich das ganze Bild meines Martyriums, mit seiner ganzen Vorgeschichte aufrolle. Haben denn die Psychiater, die mich behandelt, überhaupt eine Ahnung von meiner Psyche? Ist denn die kranke Seele ein Teil des menschlichen Organismus, den man mit mechanischen Hilfsmitteln perkutieren und auskultieren kann? Ist denn die kranke Seele durch operative Eingriffe heilbar wie etwa ein bösartiges Gewächs? Ist denn die Seele überhaupt bei jedem Menschen gleich?
Als ich vor zirka zwölf Jahren als Mitbegründer des ersten Cabarets in Deutschland die kolossalsten Erfolge erzielte, da drängten sich an mich derartig viele Menschen mit verschiedenstem Charakter, daß ich mit Recht behaupten kann, selten viel Gelegenheit gehabt zu haben, Charaktere zu studieren. Es ist selbstredend, daß der bescheidenste Mensch anfängt den Schmeicheleien zugänglich zu werden, wenn diese unausgesetzt gemacht werden.«
Das Inhaltsverzeichnis des Buchs: TEIL 1: Meine Erlebnisse! /// Der Bohèmien Danny Gürtler vor Gericht. /// Plaidoyer. /// Zeppelinsche Luftschiff vom Teufel. /// Auszug des Urteils. /// Im Vierspänner ins Gefängnis. /// In Darmstadt verbüsste ich die Strafe. /// Polizeibefehl. /// Danny Gürtler in der Irrenanstalt. /// Philosophie im Irrenhaus. ///
TEIL 2: Verschiedenartige Wirkungen, die das Hyoscin ausübt. /// Mein Lied. /// Gefängnisleben. /// Sonntags-Morgen im Gefängnis. /// Dem toleranten Oberstaatsanwalt v. H. gewidmet. /// Nachmittags-Spaziergang im Gefängnis. /// Bruderliebe. /// Begebenheit. /// Gerechtigkeit. /// Die zehn Gebote. /// Alkohol. /// Meinen Kindern.
TEIL 3: In der Irrenanstalt Eichberg. /// Kämpferlos. /// Modern. /// Resigniert. /// Die erste Nacht in Heppenheim. /// Der Vogelsteller von Heppenheim. /// Irrenhausstudium. /// Der Henker von Heppenheim. /// Gefängnis und Irrenhaus. /// Philosophie. /// Lebensmüde. /// Der Strangulierte. /// Fasching im Dauerbad. /// Gewohnheit. /// Anstalts-Essen. /// Regeln. /// An Fritz W. /// An einen Wärter. /// Verfolgungswahn. /// Qual! /// Wärterlohn. /// Klassenhass. /// Folter. /// Meine Nerven.
TEIL 4: An den Oberarzt von Heppenheim. /// An einen Psychiater. /// Einem launischen Arzt. /// Testament. /// Guter Rat! /// Urteil. /// Weihnachtsabend im Irrenhaus (Heppenheim) 1910. /// Wunsch nach Erlösung. /// Die Vöglein im Schnee. /// Herzensbildung. /// Trost. /// Meinem Jugendfreunde A. gwidmet. /// An August Löffler, dem 16 Jahre inhaftierten Leidensgenossen. /// Dem alten Pfarrer Hager gewidmet. /// Schicksal eines Mitinhaftierten.
TEIL 5: Betrachtung. /// Das Lied der Nachtigall. /// Resignation. /// Zielbewusst! /// Dichterheim. /// Friedenstraum. /// Ländliches Glück. /// Der Flüchtling. /// Fahrlässigkeit. /// Sekt oder Hyoscin? /// Schicksal. /// Urkraft. /// Notschrei!
Anhang I: – Danny Gürtler in Heidelberg. /// – Ein „königlicher“ Gast. /// – Lehe. /// – Intimes Theater.
Anhang II: – Aphorismen von Peter Altenberg. /// – Der Wahnsinnige (… von Alexander Petöfi). /// – Theater in der Irrenanstalt (… von Dr. med Carmers). /// – Wo bleibt das Reichs Irrengesetz? (… aus der Zeitschrift „Die Irrenrechts-Reform“). /// – Die Ehefrau als Schlepperin des Irrenhauses (… aus der Zeitschrift „Die Irrenrechts-Reform“). /// – Die Irrenanstalten im Lichte der natürlichen Heilweise (… von Sanitätsrat Dr. Eugen Bilfinger).
Nachtrag: – Laien und Aerzte (… von H. Andres). /// – Das Dauer- oder Deckelbad (… aus der Zeitschrift „Die Irrenrechts-Reform“). /// – Jesus Christus vom Standpunkte des Irrenarztes (… von Dr. de Loosten). /// – Irrenhaus und Alkohol. /// – Zur Reform des Irrenwesens (… von Sanitätsrat Dr. Eugen Bilfinger). /// – Eine gerichtlich festgestellte Freiheitsberaubung (… von Paul Elsner). /// – Bund für Irrenrecht und Irrenfürsorge: Was wir wollen.