Anfang Oktober 2008 sprach Vera F. Birkenbihl im Rahmen eines Interviews von Sylvia Jumpertz für die Fachzeitschrift „managerSeminare“ (= Ausgabe 128 vom November 2008) u. a. über ihre Erkrankung aus dem Autismus-Spektrum. Hier ein Auszug aus dem Interview (… veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der managerSeminare Verlags GmbH, Bonn):
»Jumpertz: Frau Birkenbihl, Sie sind kürzlich von der German Speakers Association in die Hall of Fame aufgenommen worden, in einen auserwählten Kreis überragender Referenten und Trainer. (…) Sie waren persönlich nicht zugegen, sondern haben sich per Videobotschaft bedankt – und sich dabei öffentlich als jemand geoutet, der an Asperger leidet, einer leichten Form des Autismus …
Vera F. Birkenbihl: Nein, das stimmt so nicht. Ich habe mich nicht ‚geoutet‘. In meinen Seminaren erkläre ich dies nämlich seit vielen Jahren, genau genommen, seit ich selbst davon weiß, dass ich Asperger habe.
J: Was bedeutet es für Sie als Trainerin und Referentin, autistisch zu sein? Autismus und eine stark menschenbezogene Tätigkeit – ist das nicht ein Widerspruch in sich?
B: Asperger ist ja nur eine leichtere Variante des Autismus. Früher hat man geglaubt, autistisch zu sein, ist wie schwanger sein: Entweder man ist es oder man ist es nicht. Aber das ist falsch. Stellen Sie sich ein Spektrum vor: Das rechte Ende steht für extrem empathisch, das linke für nicht empathisch. Menschen mit Asperger sind eher am am rechten Ende des linken Bereiches, am nicht empathischen Ende, zu verorten, aber nicht so weit links wie Menschen mit starkem Autismus. Wer Asperger hat, ist gleichwohl weniger menschen-, dafür aber sehr sachorientiert. Asperger kann bedeuten, dass man sich in seinem Leben extrem auf ein Leitthema konzentriert. Das kann – wie in meinem Fall – ein Forschungsthema sein, das man bis zum Exzess ausübt. Personen mit Asperger sind deshalb auch gar nicht selten ausgesprochene Leistungsträger. Unter 100 normalen Menschen gibt es vielleicht fünfzehn, die besonders hervorstechen. Unter 100 Personen mit Asperger sind es dagegen 37.
J: Also war Asperger für Sie eher von Vorteil als von Nachteil?
B: Es hat mir das Leben natürlich auch schwer gemacht – vor allem bevor ich wusste, was mit mir los ist. Ich kann mit Menschen z.B. so lange gut kommunizieren, so lange sie mit mir über Dinge reden wollen, über die ich auch reden will. Doch gnade ihnen Gott, wenn sie das nicht tun wollen. Zudem bin ich neuronal langsamer als die meisten Menschen. Das heißt, wenn ich Sie beispielsweise bitte, mir ein Fax zu schicken und Sie schicken mir stattdessen eine E-Mail, dann bringt mich das völlig aus dem Konzept, regt mich extrem auf und ich brauche zwei Stunden, um diese Irritation zu verarbeiten – ein Prozess, der bei anderen Menschen in vielleicht zwei Sekunden abläuft. Man ist dem hilflos ausgeliefert, gerät in Panik und reagiert dann dementsprechend, was das Umfeld natürlich vor den Kopf stößt. Seit sieben Jahren aber weiß ich, dass ich Asperger habe, und seither erkläre ich Seminarteilnehmern und Geschäftspartnern, was mit mir los ist. Dadurch können sie viel besser mit meinen Gefühlsausbrüchen umgehen – wobei im Seminar selbst ohnehin nie Gefahr besteht. Und auch für mich persönlich ist es eine enorme Entlastung. Ich habe 30 Jahre versucht, freundlich und taktvoll zu sein. Das hat mich wahnsinnig viel Energie gekostet. Seit ich weiß, was ich habe und dazu stehe, bin ich kreativer denn je und habe z.B. mehr Bücher verfasst als in den Jahren zuvor. (…)«
Den genauen Zeitpunkt ihrer Diagnose hat VFB nie verraten, anzunehmen ist aber, dass sie es gegen Ende des 20. Jahrhunderts eher zufällig nach der Lektüre eines Fachbuchs ‚ahnte‘ und sich dann in ärztliche Fachhände begab, um es zu verifizieren. Die Teilnehmerin eines Hamburger Seminars aus dem Jahre 1996 ist der Meinung, dass Birkenbihl es wohl schon in diesem Jahr bekannt gegeben habe; genaueres jedoch weiß man nicht. Wenige Monate vor Birkebihls Ableben im Dezember 2011 erschienen zeitgleich der ARD TV-Zweiteiler „Der kalte Himmel“ von Regisseur Johannes Fabrick und das gleichnamige Buch von Andrea Stoll, das Grundlage für die Filmadaption war. Darin wird die Geschichte einer Familie aus der (nahe Birkenbihls langjährigem Wohnort Odelzhausen gelegenen) Hallertau beschrieben, die dort in den späten 1960er-Jahren lebt.
Kurzfassung von „DER KALTE HIMMEL“ von Andrea Stoll: Der sechsjährige Felix lebt als introvertierter Einzelgänger in seiner eigenen Welt. Kaum jemand ahnt, dass der Sonderling auf seine Weise hochintelligent ist, denn er hat eine große Vorliebe für Zahlen und kann blitzschnell Kopfrechnen, obwohl es ihm niemand beibrachte. Bei seiner Einschulung scheitert er jedoch, da er nicht still sitzen kann und nicht versteht, was die Lehrerin von ihm will. In den Augen anderer Eltern ist Felix schlecht erzogen, der Rektor will ihn auf die Hilfsschule schicken, die abergläubische Großmutter organisiert gar mit dem Dorfpfarrer eine Teufelsaustreibung. Nur seine Mutter ahnt, dass ihr Sohn weder besessen noch schwachsinnig ist und lässt ihn von einem Münchener Spezialisten untersuchen. Doch es kommt, wie es kommen muss, zu dieser Zeit: Der Psychiater präsentiert Felix seinen Studenten als Paradebeispiel für „frühkindliche Schizophrenie“. Seine Mutter jedoch, geht zu einem jungen Kinder- und Jugendpsychiater und reist, trotz großer Bedenken ihres Mannes, mit Felix nach Berlin, wo der idealistische Facharzt das rätselhafte Verhalten des Jungen genauer untersucht und erstaunliche Fähigkeiten bei ihm feststellt. Fatal allerdings seine Diagnose: das so genannte Asperger-Syndrom – eine zwar milde, aber gleichwohl nicht heilbare Variante des Autismus-Störungs-Spektrums (ASS).
Die ältesten wissenschaftlichen Publikationen über autistischer Symptome stammen aus dem Jahre 1925 von der russischen Kinderpsychiaterin Grunja Sucharewa. In einer Publikation beschrieb die Ärztin und Hochschullehrerin sechs Kinder, deren Persönlichkeit sie mit dem Begriff „schizoide Psychopathie“ charakterisierte. Der österreichische Kinderarzt Hans Asperger bezeichnete die spezielle Form der Erkrankung in seiner 1943 eingereichten Habilitationsschrift schließlich als „autistische Psychopathie“. International wurden Aspergers Arbeiten, die u. a. auf Sucharewas Feststellungen basierten, jedoch erst nach 1981 beachtet, als die britische Psychiaterin Lorna Wing Aspergers Arbeit fortsetzte und das Syndrom, das bis dahin als „Psychopathie“ galt, nach Hans Asperger benannte. Wing war es auch, die das Asperger-Syndrom als mit dem frühkindlichen Autismus verwandt, aber klar unterscheidbar definierte.
Auszug aus WIKIPEDIA: „1994 wurde das Asperger-Syndrom in das medizinische Klassifikationssystem ICD der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen (…). Seit dieser Zeit wuchs das wissenschaftliche Interesse: Während im Zeitraum von Aspergers Erstbeschreibung 1944 bis 1994 insgesamt nur etwa 75 wissenschaftliche Veröffentlichungen erschienen, wurden zwischen 1994 und 2010 über 1800 Arbeiten publiziert. Das Asperger-Syndrom ist gekennzeichnet durch Auffälligkeiten in der wechselseitigen sozialen Interaktion sowie repetitive und ritualisierte Verhaltensmuster. Sprache, Intelligenz und Anpassungsfähigkeit entwickeln sich ohne merkliche Verzögerung. Bei der Sprache sind jedoch ungewöhnliche Intonationen oder als pedantisch oder formell wahrgenommene Ausdrucksweisen typisch. Weiterhin lässt sich oft eine motorische Ungeschicklichkeit beobachten. (…)“